Ötztaler Radmarathon (31.August 2014, Sölden)

Ötztaler – ein Mythos! Da einmal teilnehmen, das ist der Traum jedes ambitionierten alpenerprobten Radfahrers. Allerdings nur so lange, bis er die Anmeldebestätigung hat.

Dann startet nämlich der Alptraum: wie kann man so etwas nur überstehen? 238km mit 5500hm. Aber beim Zeitpunkt der Anmeldung ist alles noch so weit weg. Man träumt noch von unendlich vielen romantischen Trainingskilometern und natürlich von einem Rennen bei sommerlichen Bedingungen.

Bald folgt eine immer größer werdende Angst. So ziemlich jede Trainingseinheit geht im Regen unter und wird meist in nicht schneebedeckte Lagen verlegt. Im Laufe des Julis wird man sich auf einmal bewußt, dass man zumindest einmal mehr als vier Stunden auf dem Rad gesessen sein sollte und nicht nur die regenbedingt kurzen 1-2 Stunden.

Der Termin rückt immer näher, irgendwie will der Sommer heuer nicht kommen, der heißeste Tag des Jahres fand bereits Anfang Juni statt. Nun galt es, Notfallsstrategien festzulegen. Das mangelnde Training war inzwischen nicht mehr das furchterbarste, sondern die drei hochalpinen Pässe Kühtai, Jaufenpass und Timmelsjoch bei möglicherweise strömendem Regen oder gar Schneefall. So packte ich zur Anreise einfach zu meiner kompletten, teilweise vielleicht schon antiken Radmontur auch gleich sämltiches Skitourenequipement ein. Nur den Lawinenpieps und die Stirnlampe ließ ich daheim. Die Stirnlampe aber nur deswegen, weil ich mir 13 Stunden am Rad einfach nicht vorstellen wollte.

Es kam der Tag der Grausamkeit. Wie konnte mich jugendlicher Leichtsinn und maßlose Selbstüberschätzung nur so weit treiben. Die zwei Bikekliniker, die mit mir das Zimmer teilten, enterten bereits vor 5 (!!!) das Frühstücksbuffet. Wenn ich das gewußt hätte, wäre das der nächste Nichtantrittsgrund gewesen. Kaserbacher und Gratzei schaufelten fleissig in sich hinein, ich fühlte mich noch ein wenig unmunter und gehemmt. Wenigstens hatte ich inzwischen eine Rennstrategie:

  1. Bis Ötz die ersten 30km so wenig wie möglich treten, nie im Wind fahren und unter meiner Winterausstattung ja nicht schwitzen anfangen
  2. Am Anfang des Kühtais auf Sommer umziehen, dem Herrn Johannes meinen Gewandkasten umhängen und mich dann so locker wie möglich (soweit dies bei Steigungen bis 18% halt geht) auf ebendieses hinaufwuchten
  3. Ab dem Gipfel Kühtai nur mehr den Speisewagen benutzen, also wieder nur im Windschatten fahren (und sei er auch noch so marginal und langsam) und dabei futtern was geht. Der Speisewagen soll mich erst nach dem Brenner in Sterzing wieder rauswerfen
  4. Und den Rest dann einfach überleben, da sind es nur noch ein paar Kilometer und lächerliche 3000hm – quasi ein Klacks.

Nach dem ich mir die Strategie selbst ausgedacht hatte und sie ziemlich einfach erschien, musste sie wohl funktionieren. Und es klappte wirklich. Von meinem Startplatz im Mittelfeld von knapp 5000 Startern rollte ich im Sog der großen Gruppe die ersten 30km. Die verliefen größtenteils bergab und am Ende schaffte ich es sogar in die große Spitzengruppe.

Nachdem dann der Herr Johannes mich beim Strippen bewundert hatte (Winterhandschuhe, Winterjacke, Neoprenüberschuhe, Knielinge), arbeitete ich mich kurzärmelig durch das Feld dick eingepackter Rennradfahrer (überraschender Weise war auch die Gemse Wüdi dabei) und wuchtete die Pedale bald in einer Meute ungefähr gleich schneller Fahrer.

Da kam aber die erste Überraschung, von mir bei einem Radrennen so noch nicht erlebt: Im steilsten Stück des Tages kamen auf einmal verzweifelte Warnrufe von hinten: Ist ja ganz neu, dass man die Mitstreiter vor der steilsten Bergauf-Stelle warnt. Ich wunderte mich ein wenig, doch plötzlich trieb mich die Angst an den Fahrbahnrand! Lautem Geklapper folgten sehr hurtig fünf Wildpferde, die uns lahmen Riesengruppetto zeigte, was ein flotter Galopp ist. Nach dem ersten Schrecken folgte Erleichterung, da der Gipfel nun fast schon in Sicht war. Ein paar deutsche Mitstreiter wurden gar übermütig, legten das große Blatt auf und wurden unversehens von einem lautem Kracher und fliegenden Metallteilen dann zum Absteigen gezwungen. Ein Kettenklemmer mit radikalem Schaltwerksabriss machte jegliche Weiterfahrt unmöglich.

Nun kam die Gipfelrampe in Kühtai, laute Musik dröhnte aus den Boxen, Groupies schrien sich die Seele aus dem Leib und Fotografen schossen Fotos. Neben mir schon wieder ein deutscher Sportfreund. Und wieder viel zu übermütig: Vor den Kameras hieß es cool sein, also flott am Lenker reissen und einen spektakulären Wheelie präsentieren. Das klappte nur nicht beim ersten Mal, somit wurde ein zweites Mal brachial gerissen, das Sportgerät bewegte sich wie gewünscht aufs Hinterrad…, nur leider ein wenig zu weit. Da lag er bereits neben mir am Rücken und ich fiel dann fast auch noch vom Rad – vor lauter Lachen.

Erster Gipfel war geschafft, schnell noch die Damen am Buffet ein wenig überraschen: „Bitte Flasche auffüllen, mit Suppe, wenn möglich“ „Kein Problem, uijehhhh, heiß!!!“. Dermaßen erhitzt warf ich mich in die Abfahrt. Nun kam die zweite Neuheit in meiner Radfahrerkarriere. Knapp unter Tempo 100 zischte eine Verkehrstafel an mir vorbei: „Achtung, Viehgitter“. Ich begann unverzüglich zu bremsen, die Fahrer rund um mich nicht. Somit war mir klar, mit diesen 23mm dicken Reifen heißt es nun drüberspringen über diese eisernen Stolperfallen, und das bei Tempo 90. Zurerst kostete es noch ein wenig Überwindung, doch nachder vierten Wiederholung war das dann schon Routine.

Die Abfahrt absolvierten wir durchaus flott. Werte jenseits der 100km/h standen am Tacho. Da muss man durch, wenn man die Gruppe nicht verlieren will. So erreichten wir in Rekordzeit das Inntal, und die Gruppe fuhr weiter sehr ambitioniert. Schnell wurden noch ein paar Gruppen vor uns eingeholt und kurz vor Innsbruck befanden wir uns in einer riesigen Windschattengruppe, genau richtig für den Schupfer über den Brenner.

Ich trank und aß fleissig, versteckte mich so gut es ging und hatte das Glück, dass die Gruppe das für mich passende Tempo bereit hielt. Noch hielt das Wetter, aber über den Gipfeln hangen dicke schwarze Regenwolken. Die Zeit verflog wie im Flug, da ich permanent konzentriert war, niemanden ins Hinterrad zu fahren und auch meine Nahrungsaufnahme unfallfrei zu gestalten. Da erwarteten mich auch schon die letzten steilen Meter hinauf zum Brennersattel, wo bereits das nächste Buffet bereit stand.

Großzügig labte ich mich auch dort und hängte mich dann an das Hinterrad mehrerer sehr tempoerprobten Fahrer, die bis Sterzing nichts anbrennen ließen. Somit war das Projekt Speisewagen erfolgreich erledigt und es konnten die Grausamkeiten folgen, die nun jeder mit sich alleine zu besprechen hatte.

In den Jaufenpass flog meine Gruppe regelrecht hinein und spuckte mich gleich nach hinten aus. Ich suchte meinen Rhythmus, fand den auch schnell, denn von nun an hieß es Kette ganz ganz links halten und einfach nur treten. Ich begann die verbleibenden Höhenmeter zu zählen, es ging auch die ersten Serpentinen ganz gut dahin. Nur 300hm unter dem Pass hörten die Kurven auf und die Straße schlängelte sich nur mehr ungemütlich den Hang entlang bergauf. Fünfeinhalb Stunden waren absolviert, über 3000hm und mein Körper signalisierte nun ein wenig Müdigkeit. So weit war ich schon viele Jahre nicht mehr gefahren. Wenigstens war wieder eine Labestation in Sicht. Und diese wurde nun richtig intensiv besucht. Fast 10 Minuten gönnte ich mir, um meinen Körper wieder in Stimmung zu bringen.

Das klappte nicht mehr so ganz, ziemlich steif kämpfte ich mich über den Pass und wurde dort von einer technisch sehr feinen Abfahrt erwartet. Ich ließ es dezent laufen und so war der Schlußanstieg bald erreicht.

Es ging nun durch St.Leonhard hinein in den Anstieg zum Timmelsjoch. Ein aufmunterndes Schild kündigte die nächste Labestation an. 20km und 770hm, das sind ja mal grob gerechnet weniger als 4% Steigung im Schnitt. So etwas könnte mir doch wieder mehr liegen als die grausamen Rampen zuvor. Nur entweder haben die dort die Unwahrheit verkündet oder mein Körper war bereits komplett am Ende. Denn ich mühte mich im leichtesten Gang vorwärts und Fahrer, die ich Stunden zuvor mit übermütigen Sprüchen demütigte, ließen sich die Chance auf Revanche beim Zurücküberholen nicht entgehen.

Wenig überraschend ereilten nun meine liebevoll trainierten Oberschenkerln auch noch heftige Krämpfe. Sieben Stunden waren vorbei, eigentlich hatte ich es sehr lange ohne gröbere Leistungsbremsen durchgehalten. Und aufgrund meiner tiefsten Erinnerungen kam die Hoffnung, dass, sobald diese Krampfphase ausgiebig zelebriert ist, das Treten wieder ganz locker gehen sollte.

Und so war es auch. Am Ende des großen Krampfes im Passeiertal kam irgendwann einmal die heiß ersehnte Verpflegungsstelle. Dort ging ich kurz auf Kur. Danach nahm ich die steilsten Passagen aufs Timmelsjoch – naja, ich würde jetzt nicht sagen, wie eine Gazelle – zumindest mit Würde.

Inzwischen war mein Wetter aufgezogen, die letzten Höhenmeter zum Pass begann es intensiv zu regnen. Endlich wurde es richtig gemütlich. Ich freute mich – nicht weil ich so gerne im strömenden Regen von einem hochalpinen Pass (2800m) Richtung Tal rausche, sondern viel mehr, weil ich meine tolle Regenjacke nicht umsonst 200km mitgeschleppt hatte.

Nach achteinhalb Stunden Fahrzeit verließ ich den Gipfeltunnel und tastete mich warm eingekleidet durch Nebel und Regengischt ins Tal. Die Sicht und auch die Aussicht waren eher bescheiden. Kühe flüchteten zum Glück vor meinem Bremsquietschen rechtzeitig von der Straße und so konnte ich wenigstens ausreichend Schwung für die immer wieder auftauchenden Zwischenanstiege mitnehmen.

Ich flog diese Anstiege zwar nicht hinauf, aber das Tempo war ansprechend und auch bergab ließ ich es ganz flott rollen. Nur Gruppe und Windschatten ließ ich lieber sein. Zu hoch war mir da die Sturzgefahr so kurz vor dem ersehnten Ziel.

Und wirklich, nach 9:16 bog ich unter dem Zielbogen durch, verkroch mich unter einer Decke und wollte einfach nur sitzen. Aber auf keinem Fall mehr auf meinem Radl, ganz primitiv am Boden. Es war geschafft und ich war es auch.

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